Der große Lauschangriff














von Thomas Nötting, veröffentlicht im Magazin "Cinechart" der ProSiebenSAT1-Media AG, Dezember 2001

Die Zwillingsbrüder Arne und Hilmar Kaul aus Kamen sind die heimlichen Chronisten der deutschen Synchronszene. Ihre Datenbank gilt als die beste ihrer Art. Eine Geschichte über das Sehen und das Zuhören.

Immer, wenn er Sandra Bullock im Fernsehen sieht, denkt Arne an Bettina. An Bettinas sympathisch-sanfte Stimme. Nicht vielen Männern wird beim Anblick der Hollywoodschönheit eine andere Frau in den Sinn kommen. Arne Kaul schon. Jeder andere würde irgendeine Stimme wahrnehmen. Kaul dagegen weiß genau, dass Sandra Bullock mit der deutschen Stimme von Bettina Weiß spricht. Kaul könnte sämtliche 13 Filme nennen, in denen die Berliner Schauspielerin ihrer berühmten US-Kollegin die Stimme lieh. Und die zwei Filme, in denen der Hollywoodstar von einer anderen synchronisiert wurde. Dazu müsste er nicht einmal in seiner Datenbank nachsehen.

Niemand weiß mehr über deutsche Synchronsprecher als Arne Kaul. In einem kleinen Dachzimmer im westfälischen Kamen betreibt der 36-jährige seit über 15 Jahren den großen Lauschangriff auf Hollywood. "Wenn man so will, ist das mein Büro", murmelt er verlegen beim Aufstieg über die enge Treppe. Kaul bekommt nicht oft Besuch. Meistens sitzt er hier allein vor einem der vier Bildschirme. Vor dem alten Fernseher, der längst nur noch als Monitor für den Videorekorder benutzt wird, oder an einem der Rechner. Früher war diese Kammer im elterlichen Einfamilienhaus sein Kinderzimmer. Jetzt befindet sich hier die Zentrale der Firma ArKa-Soft. Aber Äußerlichkeiten sind dem 36-jährigen nicht wichtig. Wichtig ist allein das, was sich hinter den Bildschirmen und Kabeln verbirgt: Tausende von Namen, Daten, Filmtiteln, Jahreszahlen. Kaul kennt sie alle. Sie sind hier auf dem grauen Rechner gespeichert. Aber genauso in seinem Kopf.

Der Name Kaul steht für Zuverlässigkeit

"Genau 4.865 Sprecher sind es mittlerweile", sagt der blasse Mann und blickt mit einem Anflug von Stolz auf den Bildschirm mit der Aufschrift "Multimedia Spielfilm- und Serien-Bibliothek für Sprecherbesetzungen". Diese Zahl steht für die umfangreichste, aber auch ungewöhnlichste Datenbank deutscher Synchronstimmen, die wahrscheinlich jemals erstellt wurde. In der Synchronbranche spricht man einfach von der "Kaul-Datenbank", denn der Name Kaul steht für Zuverlässigkeit. Aber hinter dieser Zahl verbirgt sich auch eine Geschichte, die mindestens so ungewöhnlich ist wie "Filmlib", die "Kaul-Datenbank", selbst. Es ist die Geschichte von Arne Kaul und auch von seinem Zwillingsbruder Hilmar.

Arne und Hilmar Kaul würden dagegen protestieren, als ungewöhnlich bezeichnet zu werden. Denn eigentlich geben sie sich alle Mühe, möglichst normal und unauffällig zu wirken. Der Glamour Hollywoods ist weit weg, hier in Kamen-Heeren, in der früheren Zechensiedlung, wo unter den gepflegten Vorgärten mit gerade geschnittenen Hecken und bunten Gartenzwergen noch Dieselzüge in unterirdischen Stollen die Kohle zum nächsten Schacht transportieren. Aber Arne Kaul besitzt eine unglaubliche Fähigkeit. Er kann 3.000 Synchronsprecher an ihrer Stimme erkennen. "Das ist eigentlich nichts Besonderes", wiegelt er ab. "Es ist einfach Übung. Bei entsprechendem Training könnte das im Prinzip jeder lernen." Nur - wer außer ihm hätte sich über 15 Jahre lang mit Haut und Haaren und mit diesem Ernst diesem Thema verschrieben? Die Sprecherbibliothek ist für ihn mehr als Beruf, sogar mehr als Berufung. Sie ist eine Lebensaufgabe.

Tausende von Namen, Daten, Filmtiteln, Jahreszahlen. Arne Kaul kennt sie alle. Sie sind auf dem Rechner gespeichert. Aber genauso in seinem Kopf.

Die Geschichte beginnt 1972, vor fast 30 Jahren. Arne und Hilmar waren siebenjährige Jungs und verpassten Samstag abens keine Folge von "Raumschiff Enterprise". "Und irgendwann hörte ich diese Stimme in einem anderen Film wieder", erinnert sich Arne, "die Stimme von Captain Kirk." Wie er bald herausfand, war es in Wirklichkeit die Stimme der Synchronlegende Gert-Günther Hoffmann. Seitdem hörte Arne genau hin beim Fernsehen und sammelte jede Information, die er über die Stimmen aus dem Off bekommen konnte. Schnitt Informationen aus Programmzeitschriften aus und sammelte sie. Wenn die Schulkameraden später für die Stars aus "Dallas" und "Denver Clan" schwärmten, wusste Arne schon genau, wem die deutschen Stimmen von J.R. [Wolfgang Pampel], Bobby [Hans-Jürgen Dittberner], Alexis [Ursula Heyer] und Krystle [Gisela Fritsch] gehörten. Alles fein säuberlich notiert in unzähligen Schulheften. "Es hat als Hobby angefangen." Mit Anfang 20 - Arne machte mittlerweile eine Ausbildung zum Industriekaufmann - "kam mir die Idee, mich bei 'Wetten dass...' zu bewerben."

Wahrscheinlich wären Arne Kaul und sein hochtrainiertes Gehör schon damals locker Wettkönig geworden. Doch er wollte ganz sichergehen, schrieb Synchronstudios an und fuhr nach Berlin, um die Firmen dort persönlich um Informationen zu bitten. Man kann nur mutmaßen, wie exotisch der Junge aus der Nähe von Dortmund auf die Filmleute gewirkt haben muss. "Aber dann haben die gemerkt, was ich schon alles wusste." Seitdem sammelte Arne Kaul systematisch. Irgendwann sagte ihm jemand: "Mach das doch kommerziell, das ist eine Marktlücke." Denn Informationen über Sprecher waren kaum zu bekommen. Bis auf wenige Stars mit festem Sprecher verpasste jedes Studio und jeder Verleiher den Hollywoodmimen eine andere deutsche Stimme. Arne Kaul wurde zwar bei "Wetten dass..." nicht genommen, gründete aber später als BWL-Student ArKa-Soft. Zwillingsbruder Hilmar, der Informatiker, schrieb das Programm für "Filmlib".

In Arnes Zimmer unter dem Dach hängen noch die Helden seiner Jugend. Manche der Starposter von Heather Locklear, Kirk und Spock sind schon ein wenig vergilbt.

Seitdem hat sich viel getan, aber vieles ist auch unverändert geblieben im Leben der Brüder Kaul. Zahlreiche Synchronfirmen und einige Fernsehsender zählen inzwischen zu Kauls Kunden. Mit Hilfe der Datenbank stellen sie Besetzungslisten zusammen. Arne lebt noch immer im Haus der Eltern, Hilmar ein paar Straßen weiter im Haus der Großmutter. In Arnes Zimmer unter dem Dach hängen nach wie vor die Helden seiner und Hilmars Jugend. Manche der Starposter von Heather Locklear, Kirk und Spock und von Sylvester Stallone sind schon ein wenig vergilbt. "Die hängen seit 20 Jahren da", sagt Arne. Er hat keine Notwendigkeit gesehen, sie zu entfernen, genauso wie die hell furnierten Jugendzimmermöbel, die hier immer noch ihren Dienst tun.

Jeder Film wird einem Hörtest unterzogen

Ihre 36 Jahre sieht man den Zwillingen nicht an. "Wir werden oft für jünger gehalten", sagt Hilmar. Mit ihren Bundfaltenhosen, den ordentlich gescheitelten Frisuren und glatten Gesichtern wirken sie tatsächlich ein wenig wie zu groß geratene Jungen. Alles in doppelter Ausführung, denn Arne und Hilmar Kaul zählen zu der Sorte von Zwillingen, die sich in lebenslanger Symbiose optisch immer mehr angenähert haben. In ihrem "Fernsehraum" stehen ein moderner Beamer und eine Hochleistungsstereoanlage, die das perfekte Kinoerlebnis an die eigens dafür verputzte Wand projizieren. Hier werden Hilmar und Arne wieder ein wenig zu den Jungs, die mit leuchtenden Augen die neueste "Star Trek"-Folge verschlingen.

Überhaupt wirkt die Zeit in der Welt der Kaul-Brüder seltsam konserviert. Arne bewahrt die deutsche Synchrongeschichte für die Nachwelt auf, Hilmar, der im Hauptberuf als EDV-Mann für eine evangelische Behindertenbetreuunugseinrichtung arbeitet, die Computergeschichte. Als Eingabeterminal für "Filmlib" dient nimmer noch ein über 15 Jahre alter Apple IIgs. "Der ist immer noch unübertroffen als Eingabemaske. Viel einfacher zu handhaben", erklärt Hilmar. Auch sonst wird kaum etwas weggeworfen. Nicht die über 20 Jahre alte Festplatte, ein Sammlerstück aus der Steinzeit der Computerära ["So groß und nur fünf Megabyte! Eine Rarität!"] und schon gar nicht die zahlreichen "Star Trek"-Modellraumschiffe aus Jugendtagen, die hier in Arnes Bürozimmer stehen.

Zweimal im Jahr besteigen Arne und Hilmar das weiße Wohnmobil der Familie Kaul. Vom Kamener Kreuz geht es ostwärts, Richtung Berlin, wo die meisten Synchronfirmen ihren Sitz haben. "Wir sparen uns das Hotel", sagt Arne. "Denn Reichtümer kann man mit der Datenbank noch nicht verdienen." Mit dem Kaul-Mobil könnten auch nur die wenigsten Hotelzimmer mithalten. Eine hochmoderne Satellitenanlage ermöglicht den Empfang sämtlicher Fernsehsender. "Man muss ja auch im Urlaub gucken können", meint Arne. Im Gepäck haben sie die neue Version von "Filmlib". Hilmar installiert die Software und speichert die Datensätze der Synchronstudios. Arne hilft ihm und kümmert sich ums Geschäft.

Zweimal im Jahr besteigen Arne und Hilmar das weiße Wohnmobil der Familie Kaul. Vom Kamener Kreuz geht es ostwärts, Richtung Berlin.

Die Besetzungslisten der Studios sind die Grundlage der Kaulschen Filmbibliothek. Aber Arne Kaul übernimmt nichts ungeprüft. In jeden Film hört er nochmal rein, jede Stimme wird vorm Bildschirm einem Hörtest unterzogen. "Es passiert sehr häufig, dass die Studios im letzten Moment irgendwelche Nebenrollen umbesetzen." Und auch diese Stimmen müssen stimmen. Das ist er der Marke Kaul schuldig. Für die vielen anderen Synchronsprecher-Nachschlagewerke, die im Internet und anderswo kursieren, hat er nur sein schüchternes, jungenhaftes Lächeln übrig. Sie mit "Filmlib" zu vergleichen hieße, ein paar billige Rechenschieber mit einem Hochleistungscomputer auf eine Stufe zu stellen. Das würde der zurückhaltende Mann zwar so nie sagen. Aber er weiß genau: Wer wirklich wissen will, wer wann wen wo synchronisiert hat, der muss bei Kaul nachschauen.

Anruf von "Alf"

Dafür sitzt er pro Woche 50 Stunden vor dem Bildschirm, schätzt Arne Kaul. Hört, notiert und gibt die Daten in den alten Apple IIgs ein. In der kleinen Synchronszene in Berlin und München kennt und schätzt man die Brüder. Sie passen vielleicht auf den ersten Blick nicht zum schillernden Synchronvölkchen, gehören aber inzwischen dazu. Hilmar freut sich auf die Fahrten nach Berlin und München. Dafür opfert er gern ein paar Wochen Urlaub. "Für mich ist das ja mehr ein Hobby, die Datenbank ist Arnes Projekt." Manche Synchronsprecher wie Irina Wanka - die deutsche Stimme von Sophie Marceau - haben sich schon mit den Brüdern zum Kaffee verabredet. Synchronsprecher ist immer noch ein Beruf mit wenig Prestige. "Manche freuen sich einfach, dass jemand ihre Arbeit so würdigt", sagt Arne. Kürzlich hat auch Tommi Piper ["Alf"] angerufen und sich sehr für die legendäre Kaul-Datenbank interessiert. "Der hatte durch einen Aufnahmeleiter von uns erfahren."

Einmal, da hat man Arne und Hilmar Kaul angeboten, selbst vor ein Mikrofon zu treten. Bei der Synchronisation einer "Star Trek"-Folge hätten die beiden Brüder, die jedes Detail in sämtlichen Staffeln der Weltraumsaga kennen dürften, winzige Nebenrollen sprechen können. In Arnes Augen ist noch ein Abglanz des Schreckens zu erahnen, der ihm in diesem Moment in die Glieder gefahren sein muss. "Nein, das machen wir nicht, haben wir gesagt. Wir sind keine Schauspieler." Im Rampenlicht sollen andere stehen. Arne Kaul hat seine Rolle gefunden. Er hört lieber zu.

Redaktionell bearbeitet 01/2004 Gereon Stein

 

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